BAföG – und der Erbanteil am Familienheim

Vor dem Bundesverfassungsgericht hatte jetzt eine Verfassungsbeschwerde betreffend einen ablehnenden BAföG-Bescheid wegen Anrechnung eines Erbanteils an einem von weiteren Familienmitgliedern bewohnten Haus erfolgreich.

Der Student beantragte im November 2020 die Bewilligung von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) für ein im Wintersemester 2020/21 aufgenommenes Studium. Er hat an einem Einfamilienhaus in ungeteilter Erbengemeinschaft einen Erbanteil von einem Zwölftel, den er neben seiner Mutter und seinen beiden Brüdern nach dem Tod des Vaters erlangt hat. Das Einfamilienhaus weist eine Wohnfläche von 161 qm auf und wird von seiner Mutter, seinen beiden Brüdern und ihm selbst bewohnt. Die Behörde hat den Wert des Erbanteils des Studenten mit 26.219 € angesetzt. Der Widerspruch des Studenten gegen den Ablehnungsbescheid für den Bewilligungszeitraum November 2020 bis September 2021 wurde unter anderem mit der Begründung zurückgewiesen, eine wirtschaftliche Unverwertbarkeit des „Miteigentumsanteils“ sei nicht gegeben. Sollte kein Einvernehmen über eine Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft zu erzielen sein, könne die Zwangsversteigerung betrieben werden.

Die gegen diese Entscheidungen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main unter anderem mit folgender Begründung ab1: Der Erbanteil des Studenten könne nicht gemäß § 29 Abs. 3 BAföG zur Vermeidung unbilliger Härten anrechnungsfrei bleiben. Zwar könne eine unbillige Härte auch bei wirtschaftlicher Unverwertbarkeit vorliegen. Eine solche sei hier jedoch nicht gegeben. Dabei könne dahinstehen, ob für den Studenten tatsächlich keine Möglichkeit bestehe, den Erbanteil zu beleihen oder an seine Mutter zu veräußern. Auch greife der Einwand des Studenten nicht durch, dass seine Mutter zu einer einvernehmlichen Aufhebung der Erbengemeinschaft nicht bereit sei. Davon könne der Einsatz öffentlicher Mittel trotz vorhandenen Vermögens nicht abhängig gemacht werden, zumal über den Erbanteil als Ganzes auch ohne Zustimmung des Miterben verfügt werden könne. Umstände, die wegen unzumutbarer Konsequenzen für die Miterben als gleichsam moralisches Hindernis für eine Verwertung empfunden würden, erfüllten nicht den Tatbestand einer unbilligen Härte. Anhaltspunkte dafür, dass sich das Einfamilienhaus nicht zu einem angemessenen Preis veräußern ließe, seien weder ersichtlich noch vorgetragen.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung ab2. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Erbanteil des Studenten an dem Hausgrundstück sei wirtschaftlich verwertbar, begegne keinen ernstlichen Zweifeln. Insbesondere stelle es keine unbillige Härte im Sinne des § 29 Abs. 3 BAföG dar, dass der Student sich aus moralischen Gründen an einer Verwertung gehindert sehe, weil er diese nur unter Inkaufnahme eines innerfamiliären Konflikts erreichen könne. Die Vermeidung eines innerfamiliären Konflikts sei lediglich ein außerrechtliches, sittlich-moralisches Argument, das im Hinblick auf die grundsätzliche Nachrangigkeit der Ausbildungsförderung und den Ausnahmecharakter der über den Freibetrag hinausgehenden Anrechnungsfreistellung keine unbillige Härte begründen könne.

Die daraufhin von dem Studenten erhobene Verfassungsbeschwerde beurteilte das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der geltend gemachten Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG als zulässig und begründet; es hob die Entscheidungen des Verwaltungsgearichts und des Hessischen Verwaltungsgerichtshof auf und verwies die Sache zurück an das Verwaltungsgericht Frankfurt, verbunden mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die Handhabung des einfachen Rechts auf einen leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen hindeute3:

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen mit ihrer Annahme, dass keine unbillige Härte im Sinne des § 29 Abs. 3 BAföG wegen der Vermögensanrechnung des Erbteils von einem Zwölftel an dem Hausgrundstück der Familie vorliege, den Studenten in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung als Willkürverbot.

Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Gerichte und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen; ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt jedoch unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht4. Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt5. Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen6.

In den angegriffenen Entscheidungen wird letztlich maßgeblich darauf abgestellt, es sei dem Studenten zumutbar, die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft zu betreiben und seinen Erbanteil von einem Zwölftel im Wege der Zwangsversteigerung des Hausgrundstücks zu verwerten. Diese Annahme ist ausgehend von der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung der Härtefallregelung des § 29 Abs. 3 BAföG nicht mehr nachvollziehbar. Danach stellt auch die Anrechnung wirtschaftlich nicht verwertbaren Vermögens eine unbillige Härte dar7. Ein wirtschaftliches Verwertungshindernis kann auch die Notwendigkeit begründen, Vermögen im Wege der Zwangsversteigerung eines Hausgrundstücks einzusetzen, weil dabei regelmäßig ein erheblicher wirtschaftlicher Verlust entsteht8. Die angegriffenen Entscheidungen enthalten hierzu keine Feststellungen noch wird die Frage eines wirtschaftlichen Verlustes im Falle der Zwangsversteigerung überhaupt aufgegriffen. Stattdessen nimmt das Verwaltungsgericht trotz der unterstellten Notwendigkeit einer Zwangsversteigerung an, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass sich das hier in Rede stehende Einfamilienhaus nicht zu einem angemessenen Preis verkaufen lasse. Das ist schlichtweg unverständlich.

Darüber hinaus lassen die angegriffenen Entscheidungen bei der Anwendung der Härtefallregelung des § 29 Abs. 3 BAföG völlig unberücksichtigt, dass die Mutter und die beiden Brüder des Studenten zu einer voraussichtlich unwirtschaftlichen Verwertung ihres Anteils am gemeinsam bewohnten Hausgrundstück gezwungen würden, obwohl sie nicht zum Einsatz ihres Vermögens verpflichtet sind, um dem Studenten ein Studium zu ermöglichen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 BAföG). Dies ist umso weniger nachvollziehbar, als dem Studenten mit nur einem Zwölftel ein im Verhältnis zu seinen Angehörigen nur geringer Anteil am Hausgrundstück von dementsprechend auch nur begrenztem Wert zusteht9.

Danach war vom Bundesverfassungsgericht festzustellen, dass der Bescheid des Studentenwerks Frankfurt am Main in der Gestalt des Widerspruchsbescheids, das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main und der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs den Studenten in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Das Urteil des Verwaltungsgerichts und der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs wurden vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 21. März 2023 – 1 BvR 1620/22

  1. VG Frankfurt a.M., Urtiel vom 18.10.2021 – 3 K 1214/21.F[]
  2. Hess.VGH, Beschluss vom 21.07.2022 – 10 A 2170/21.Z[]
  3. vgl. BVerfGE 90, 22 <25>[]
  4. vgl. BVerfGE 74, 102 <127> stRspr[]
  5. vgl. BVerfGE 4, 1 <7> 74, 102 <127> 83, 82 <84> 87, 273 <278 f.> 89, 1 <13 f.> 96, 189 <203> stRspr[]
  6. vgl. BVerfGE 4, 294 <297> 96, 189 <203> BVerfG, Beschluss vom 23.03.2020 – 2 BvR 1615/16, Rn. 43 m.w.N.[]
  7. vgl. BVerwGE 88, 303 <307 f.> m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2011 – 12 S 2872/10, Rn. 24 f. m.w.N.[]
  8. vgl. BayVGH, Beschluss vom 12.01.2012 – 12 C 11.1343, Rn. 28; VG Stuttgart, Urteil vom 15.05.2006 – 11 K 2940/05, Rn. 25; VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 05.07.2002 – 15 B 21/02, Rn. 9; VG Dresden, Beschluss vom 13.03.2008 – 5 K 2552/07, Rn. 51 ff.; ebenso Hartmann, in: Rothe/Blanke, BAföG, 5. Aufl., § 29 Rn. 15 [April 2016] m.w.N.[]
  9. vgl. BayVGH, Beschluss vom 12.01.2012 – 12 C 11.1343, Rn. 28[]