Kindergeld für ein behindertes Kind

Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist ein behindertes Kind dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten existenziellen Lebensbedarfs ausreicht. Der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert. Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen Kinderfreibetrag zu gewähren.

Bei der Prüfung, ob ein volljähriges Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist auf den Kalendermonat abzustellen.

Eine für einen vergangenen Zeitraum geleistete Sonderzahlung ist erst ab dem Monat des Zuflusses zu berücksichtigen. Wird eine Nachzahlung, die zum Wegfall der Bedürftigkeit führt, erst im Laufe des Monats ausbezahlt, wirkt sie sich erst in dem auf den Zuflussmonat folgenden Monat aus.

In Anwendung der vorstehenden Grundsätze war – X in den Monaten September und Oktober 2005 zum Selbstunterhalt imstande, weil er über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existenziellen Lebensbedarf zu decken.

Neben der Eingliederungshilfe gehört die Grundsicherung nach den §§ 41 ff. SGB XII zu den Bezügen i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Denn Bezüge in diesem Sinne sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden.

Nachzahlungen der Grundsicherung sind im jeweiligen Folgemonat als Bezüge zu berücksichtigen.

Durch die Grundsicherung wie auch durch deren Nachzahlung erfährt der Unterhaltsverpflichtete im jeweils zu betrachtenden (Monats-)Zeitraum eine Entlastung, da nach § 1602 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs unterhaltsberechtigt nur ist, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Ergibt sich eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes, kann davon ausgegangen werden, dass dem dem Grunde nach Kindergeldberechtigten kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der seine steuerliche Leistungsfähigkeit mindert.

Von daher sind die Überlegungen, Grundsicherungsleistungen seien gegenüber Unterhaltsansprüchen vorrangig und dienten folglich dazu, etwaige Unterhaltsverpflichtete von Unterhaltszahlungen zu entlasten, so dass die Grundsicherung im Umfang ihrer Leistung im Ergebnis eine Unterhaltspflicht der Eltern zum Erlöschen bringe, bereits von ihrem Ansatz her nicht geeignet, einen Anspruch der Klägerin auf Kindergeld in den betreffenden Zeiträumen zu begründen.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Berücksichtigung der Nachzahlungen von Grundsicherung im Ergebnis einer nicht gebotenen Einbeziehung von Unterhaltsleistungen der Eltern an ihr Kind gleichkäme.

Vielmehr war für die jeweiligen Monate, für die das behinderte volljährige Kind die Grundsicherung nicht in der gebotenen Höhe erhielt, der Anspruch auf Kindergeld im Hinblick auf deren steuerliche Leistungsfähigkeit ebenso zu prüfen wie vorliegend ihr Anspruch auf Kindergeld für die Streitzeiträume. Die gegenteilige Auffassung führte im Ergebnis dazu, entgegen dem nach ständiger Rechtsprechung zu beachtenden Zuflussprinzip die Nachzahlungen der Grundsicherung auf diejenigen Monate zu verteilen, für die ein entsprechender Anspruch bestand. Eine solche Verteilung des Nachzahlungsbetrages kommt jedoch nicht in Betracht; etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem BFH-Urteil in BFHE 191, 55, da diese Entscheidung unter Bezugnahme auf die Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 7 EStG (für den Streitzeitraum § 32 Abs. 4 Satz 6 EStG) nicht den Anspruch auf Kindergeld für ein behindertes Kind (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG) betrifft.

Nach § 70 Abs. 2 EStG ist, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten, die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 20. März 2013 – XI R 51/10