Abrechnungsbetrug durch minderqualifiziertes Personal im ambulanten Pflegedienst
Die Betreiberin eines ambulanten Pflegedienstes begeht einen Abrechnungsbetrug, wenn ihre Mitarbeiter nicht über die mit der Kranken- und Pflegekasse vertraglich vereinbarte Qualifikation verfügen.
Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs täuschte die Betreiberin die zuständigen Mitarbeiter der Krankenkasse durch die Einreichung der Rechnungen nebst Leistungsnachweisen konkludent über das Vorliegen der den Zahlungsanspruch begründenden Tatsachen. Soweit sie Rechnungen mit überhöhter Stundenzahl eingereicht hat, liegt dies auf der Hand. Darüber hinaus gab sie aber auch konkludent wahrheitswidrig vor, Pflegepersonal eingesetzt und beschäftigt zu haben, das die vertraglich vereinbarte Qualifikation aufwies. Im Einzelnen:
Zwar fordert das SGB V bezüglich der häuslichen Krankenpflege keine besondere Qualifikation der von den Leistungserbringern eingesetzten Personen. Die Krankenkassen sind jedoch berechtigt, den Abschluss eines Vertrages über die Leistung häuslicher Krankenpflege von einer bestimmten formalen Qualifikation des Pflegepersonals abhängig zu machen1. Wird eine solche Vereinbarung getroffen, bildet sie neben den gesetzlichen Bestimmungen die Grundlage der Leistungsbeziehung und soll sicherstellen, dass sich die Pflege nach den gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen vollzieht2. Eine solche Bestimmung haben die Vertragsparteien hier getroffen, und zwar ausdrücklich für die häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V und die Pflegesachleistung nach § 36 SGB XI. Die Leistungserbringung gegenüber der Krankenversicherung und gegenüber der Pflegeversicherung richtete sich daher nach denselben Maßstäben.
Hiervon ausgehend ist auch insoweit in den Abrechnungen der Betreiberin eine Täuschung der Mitarbeiter der Krankenkasse zu erblicken; denn tatsächlich setzte die Betreiberin des Pflegedienstes – obwohl sie dies in den eingereichten Rechnungen zumindest konkludent (mit)erklärt hat – zur Pflege des Patienten zu keinem Zeitpunkt Mitarbeiter mit der vereinbarten Zu- satzqualifikation ein und veranlasste auch keine Einweisung und Überwachung des vor Ort tätigen Personals durch solche Mitarbeiter. Auch hatte sie nur kurzzeitig Personal beschäftigt, das diese Qualifikation aufwies.
Dagegen gingen die Mitarbeiter der Krankenkasse deshalb davon aus, dass der Pflegedienst die Leistungen wie vereinbart erbracht habe und bezahlten die Rechnungen. Hätten sie von der fehlenden Qualifikation des Personals gewusst, hätten sie dies nicht getan.
Der Krankenkasse ist durch die irrtumsbedingte Bezahlung der Rechnun- gen ein Vermögensschaden entstanden.
Ein solcher tritt ein, wenn die Vermögensverfügung des Getäuschten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des Gesamtwerts des Vermögens des Verfügenden führt3. Aus dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG folgt dabei, dass die gebotene wirtschaftliche Betrachtungsweise nicht durch eine normative Auslegung des Merkmals des Vermögensnachteils bzw. schadens überlagert werden darf4.
Nach diesem Maßstab liegt zunächst ein Vermögensschaden der Krankenkasse vor, soweit die Betrieberin des Pflegedienstes in sämtlichen Abrechnungen gegenüber der Krankenkasse mehr Dienststunden angegeben hat als tatsächlich geleistet wurden5.
Aber auch soweit durch die Mitarbeiter der Angeklagten die Pflegeleistungen tatsächlich erbracht wurden, tragen die Feststellungen die Annahme eines Vermögensschadens und damit die Verurteilung wegen Betrugs.
Denn die Krankenkasse war im Tatzeitraum nicht zur Zahlung der in Rechnung gestellten Beträge verpflichtet, da die vom Pflegedienst eingesetzten und beschäftigten Pflegekräfte nicht über die in der Vereinbarung zwischen dem Pflegedienst und der Krankenkasse vorausgesetzte Qualifikation verfüg- ten.
Das Unterschreiten der nach dem Vertrag vereinbarten Qualifikation führt nach den insoweit maßgeblichen Grundsätzen des Sozialrechts auch dann zum vollständigen Entfallen des Vergütungsanspruchs, wenn die Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht wurden („streng formale Betrachtungsweise“)6. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können die Krankenkassen auf formalen Ausbildungs- und Weiterbildungsqualifikationen bestehen, weil sonst eine den praktischen Erfordernissen entsprechende Qualitätskontrolle der Leistungserbringung nicht möglich ist7. Die Abrechenbarkeit von Leistungen knüpft daher streng an die formale Qualifikation des Personals an, wobei die vertragliche Vereinbarung mit dem Leistungserbringer maßgeblich ist8. Dem Leistungserbringer steht daher für Leistungen, die er unter Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften oder vertragliche Vereinbarungen bewirkt, auch dann keine Vergütung zu, wenn diese Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht sind9. Auch Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung oder Geschäftsführung ohne Auftrag scheiden in diesen Fällen aus10. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Rechtsauffassung bestehen nicht. Die Regelungen im Sozialrecht dienen in erster Linie der Wirtschaftlichkeit und der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, welche einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang darstellen11.
Hatte dier Pflegedienst mithin unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch auf die geltend gemachten Leistungen, so ist der Krankenkasse mit den Zahlungen wirtschaftlich – nicht lediglich normativ – ein entsprechender Schaden entstanden.
Darüber hinaus stellte die Arbeitsleistung als solche keine Gegenleistung für die Zahlungen der Kranken- und Pflegekasse dar. Aufgrund der verletzten vertraglichen Vorgabe war unter den hier gegebenen besonderen Umständen die Qualität der Leistung so gemindert, dass ihr wirtschaftlicher Wert gegen Null ging12. Denn im vorliegenden Fall konnte eine hinreichende Versorgung bei dem tracheostomierten Patienten O. unter Berücksichtigung möglicher Notfallsituationen, die eine Beatmung notwendig machen konnten, entsprechend der Auffassung der Krankenkasse nur erfolgen, wenn die eingesetzten Mitarbeiter über eine Zusatzausbildung zum Fachgesundheitspfleger oder Krankenpfleger bzw. Kinderkrankenpfleger für pädiatrische Intensivpflege verfügten. Dies sollte durch die vertraglichen Vereinbarungen mit dem Pflegedienst über die Zusatzqualifikation sichergestellt werden, was dieser auch bekannt war. Die eingesetzten Mitarbeiter des Pflegedienstes erhielten jedoch nicht einmal nähere Instruktionen darüber, welche Komplikationen bei dem Patienten O. eintreten könn- ten und welche Maßnahmen bei einem Notfall, z.B. während der Wartezeit auf den Notarzt zu ergreifen wären. Sie wurden lediglich darauf verwiesen, sich an die vor Ort tätigen, nicht ausgebildeten polnischen Hilfskräfte, die allerdings kaum Deutsch sprachen, zu wenden oder gegebenenfalls den Notarzt zu rufen. Vor diesem Hintergrund stellten die tatsächlich erbrachten Leistungen des Pflegedienstes nicht nur eine Schlechtleistung dar, sondern stehen einer Nichterbringung der vertraglich geschuldeten Leistung gleich. Die vom Pflegedienst erbrachten Leistungen waren daher auch unabhängig von dem Entfallen eines sozialversicherungsrechtlichen Vergütungsanspruchs bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise für die Krankenkasse wertlos.
Schon aus diesem Grund steht der Annahme eines Vermögensschadens auch das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, das eine Ersetzung der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise durch eine normative Auslegung des Merkmals des Vermögensnachteils bzw. schadens verbietet4, nicht entgegen.
Der Annahme eines vollständigen Vermögensverlustes steht auch nicht entgegen, dass die Krankenkasse die dem Versicherten geschuldeten Leistungen im Nachhinein nicht mehr erbringen muss. Dabei kann dahinstehen, ob der Anspruch des Versicherten auf häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V durch das Tätigwerden der Angeklagten erloschen ist13. Insoweit fehlt es jedenfalls bereits an der erforderlichen Unmittelbarkeit des herbeigeführten Vermögenszuwachses. Denn eine Befreiung von der Leistungspflicht gegenüber dem Versicherungsnehmer stellt keine Gegenleistung für die gezahlte Pflegevergütung dar. Sie würde vielmehr aus einer anderen Leistungsbeziehung als derjenigen zwischen der Krankenkasse und dem Pflegedienst herrühren14.
Aus demselben Grund entfällt der Vermögensschaden auch nicht dadurch, dass die Krankenkasse keinen anderen Pflegedienst mit der Pflege des Patienten beauftragen musste und deshalb Aufwendungen erspart hat15.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. Juni 2014 – – 4 StR 21/14
- BSGE 90, 150, 154 ff.; BSGE 98, 12, 17, 19[↩]
- vgl. BSG, Beschluss vom 17.05.2000 – B 3 KR 19/99 B, Rn. 5, juris; BSGE 94, 213, 220 Rn. 26; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.04.2008 – L 1 KR 78/07, Rn. 32[↩]
- Gesamtsaldierung, vgl. BGH, Urteil vom 27.06.2012 – 2 StR 79/12, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 77; Beschlüsse vom 25.01.2012 – 1 StR 45/11, BGHSt 57, 95 Rn. 75; vom 05.07.2011 – 3 StR 444/10, jeweils mwN[↩]
- vgl. BVerfG, NStZ 2010, 626, 629; NJW 2012, 907, 916 f.[↩][↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 01.12 1989 – 4 StR 419/89, BGHSt 36, 320, 321; Volk, NJW 2000, 3385, 3386; SSW-StGB/Satzger, 2. Aufl., § 263 Rn. 255[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 05.12 2002 – 3 StR 161/02, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 62 m. Anm. Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316; Beschluss vom 28.09.1994 – 4 StR 280/94, NStZ 1995, 85 f.; Sächs. LSG, Urteil vom 18.12 2009 – L 1 KR 89/06, Rn. 36[↩]
- BSGE 98, 12 Rn. 32 mwN[↩]
- SG Potsdam, Urteil vom 08.02.2008 – S 7 KR 40/07, juris; SG Dresden, Beschluss vom 10.09.2003 – S 16 KR 392/03 ER[↩]
- vgl. BSG, Beschluss vom 17.05.2000 – B 3 KR 19/99 B, Rn. 5; BSGE 94, 213, 220 Rn. 26; Urteil vom 08.09.2004 – B 6 KA 14/03 R, Rn. 23 jeweils mwN[↩]
- BSG, Beschluss vom 17.05.2000 – B 3 KR 19/99 B, Rn. 5[↩]
- vgl. BVerfG, NJW 2014, 2340, 2341 Tz. 34[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 02.07.2014 – 5 StR 182/14, Rn. 13; Singelnstein, wistra 2012, 417, 422; Schönke-Schröder/Perron, StGB, 29. Aufl., § 263 Rn. 112b; Luig, Vertragsärztlicher Abrechnungsbetrug und Schadensbestimmung, 2009, S. 147; Volk, NJW 2000, 3385, 3387 f.; Dannecker/Bülte, NZWiSt 2012, 81, 84; Dann, NJW 2012, 2001, 2003; Wischnewski/Jahn, GuP 2011, 212, 215; zum Abrechnungsbetrug bei Kassenärzten vgl. auch Lindemann, NZWiSt 2012, 334, 39; Grunst, NStZ 2004, 533, 536 f.; Idler, JuS 2004, 1037, 1041; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl., § 14, Rn. 14/33; Stein, MedR 2001, 124, 127, 130[↩]
- vgl. LG Lübeck, GesR 2006, 176, 177; Grunst, NStZ 2004, 533, 535; Gaidzik, wistra 1998, 329, 331 f.; Ellbogen/Wichmann, MedR 2007, 14; Saliger, ZIS 2011, 902, 917; Idler, JuS 2004, 1037, 1041[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 25.01.2012 – 1 StR 45/11, BGHSt 57, 95, 117; MünchKomm-StGB/Hefendehl, 2. Aufl., § 263 Rn. 582; Hellmann, NStZ 1995, 232, 233; Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316[↩]
- BGH, Beschluss vom 25.01.2012 – 1 StR 45/11, aaO, 118 f.; Urteil vom 04.09.2012 – 1 StR 534/11, BGHSt 57, 312 Rn. 52; Urteil vom 05.12 2002 – 3 StR 161/02, NStZ 2003, 313, 315 mit zust. Anm. Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316; Beschluss vom 28.09.1994 – 4 StR 280/94, NStZ 1995, 85, 86 mit zust. Anm. Hellmann, NStZ 1995, 232, 233; SSW-StGB/Satzger, 2. Aufl., § 263 Rn. 256; Fischer, StGB, 61. Aufl., § 263 Rn. 155; aA Wischnewski/Jahn, GuP 2011, 212, 216; Wasserburg, NStZ 2003, 353, 357[↩]