Der Entzug der elterlichen Sorge – und die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers

Haben die Eltern eines Kindes zu Beginn und während einer Jugendhilfeleistung ihren jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt in Bezirken verschiedener Jugendhilfeträger und verlieren beide Elternteile das Personensorgerecht, richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

In dem jetzt vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall begehrt ein hessischer Landkreis von einer nordrhein-westfälischen Stadt die Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von etwa 330.000 €. Die Eltern des 2008 geborenen Kindes lebten seit 2012 getrennt. Das Kind verblieb beim Vater im Zuständigkeitsbezirk der beklagten nordrhein-westfälischen Stadt. 2014 zog die Mutter in den hessischen Landkreis und damit in den Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes des klagenden Landkreises um. Nachdem das Familiengericht im Sommer 2017 dem Kindesvater die elterliche Sorge entzogen hatte, nahm das Jugendamt der Beklagten das Kind in Obhut und erbrachte Jugendhilfeleistungen in Form der Heimerziehung. Der hessische Landkreis übernahm den Hilfefall in seine Zuständigkeit, weil die zu diesem Zeitpunkt allein sorgeberechtigte Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Zuständigkeitsbereich hatte. Nachdem das Familiengericht im Mai 2018 auch der Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, vertrat der hessische Landkreis gegenüber der nordrhein-westfälischen Stadt erfolglos die Auffassung, diese sei für den Hilfefall wieder zuständig geworden, weil die elterliche Sorge keinem Elternteil zustehe und das Kind vor Beginn der Jugendhilfeleistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt beim Vater gehabt habe, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der nordrhein-westfälischen Stadt habe. Infolgedessen müsse die Stadt dem Landkreis die im Zeitraum von Mai 2018 bis Februar 2023 entstandenen Jugendhilfekosten erstatten.

Das Verwaltungsgericht Minden ist der Auffassung des Landkreises gefolgt1. Die hiergegen von der Stadt mit Zustimmung des Landkreises eingelegte Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht blieb vor dem Bundesverwaltungsgericht ohne Erfolg:

Die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers richtet sich in einem solchen Fall danach, wo derjenige Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII).

Nicht anwendbar ist die Regelung, die eine statische Zuständigkeit des bisherigen örtlichen Trägers vorsieht (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII). Diese Vorschrift regelt zwar auch den Fall, dass keinem der Eltern die elterliche Sorge zusteht. Sie betrifft aber nur – wie sich im Wege der Auslegung ergibt – die in ihrem Satz 1 (§ 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII) geregelten Fälle, in denen die Eltern nach Beginn der Jugendhilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Nachdem der Gesetzgeber im Jahre 2013 die Zuständigkeitsnorm (§ 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII) mit Wirkung zum 1. Januar 2014 geändert und dort die Worte „in diesen Fällen“ eingefügt hat, nimmt diese Regelung auch dann in vollem Umfang den vorhergehenden Satz 1 in Bezug, wenn keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht.

Die gegenteilige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII in der bis Ende 2013 geltenden Fassung, auf die sich die nordrhein-westfälische Stadt beruft, ist auf die aktuelle Gesetzesfassung nicht übertragbar. Haben die Elternteile bereits bei Beginn und während einer Jugendhilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte und verliert wie hier auch der zweite Elternteil die Personensorge für das Kind, richtet sich die örtliche Zuständigkeit daher nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII).

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25. April 2024 – 5 C 3.23

  1. VG Minden, Urteil vom 14.03.2023 – 6 K 861/20[]