Der telefonische Kontakt zur Mutter im Ausland

Kindergeld für sich selbst können Kinder nur erhalten, wenn sie Vollwaise sind oder den Aufenthalt der Eltern nicht kennen. Kein Kindergeld beanspruchen kann ein Kind, wenn es gelegentlich mit seiner Mutter im Ausland telefonieren und sich dabei nach ihrem Aufenthaltsort erkundigen kann.

In dem hier vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall ging es um einen 2001 geborenen Syrer. Sein Vater ist kurz nach seiner Geburt verstorben. Im Jahr 2015 ist der Sohn aus seinem Heimatort geflohen und nach Deutschland eingereist. Im streitigen Zeitraum verfügte er über eine die Erwerbstätigkeit gestattende Aufenthaltserlaubnis, führte einen eigenen Haushalt und besuchte die Schule. Ende 2017 hat sich auch seine Familie auf die Flucht begeben und zunächst jeweils nur für kurze Dauer an verschiedenen Orten in Syrien gelebt, zuletzt in der Nähe von Damaskus. Über ihren ungefähren Aufenthalt konnte der Sohn sich zunächst nur über seinen in Katar lebenden Bruder informieren. Später konnte er hin und wieder über das Internet mit seiner Mutter telefonieren.

Den Antrag des Sohnes auf Kindergeld für sich selbst lehnte die Beklagte ab. Aufgrund des Kontakts zu seiner Mutter habe der Sohn deren Aufenthalt gekannt. Seine hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Berlin abgewiesen1. Auf die Berufung des Sohnes hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg2 die Familienkasse verurteilt, dem Sohn Kindergeld für den streitgegenständlichen Zeitraum zu zahlen. Eine dem Anspruch entgegenstehende Kenntnis des Aufenthalts könne nur angenommen werden, wenn zumindest ein Elternteil für das Kind „greifbar“ sei. Eine Erreichbarkeit in diesem Sinne erfordere einen verstetigten und nicht nur vorübergehenden Aufenthaltsort sowie eine postalische Erreichbarkeit der Eltern beziehungsweise des verbliebenen Elternteils. Dies folge aus dem Sinn und Zweck des Kindergelds für sich selbst. Die Leistung sei eine reine Sozialleistung, auf die gerade solche Kinder angewiesen seien, denen ihre Eltern oder Verwandten nicht mehr helfen könnten. Dem Kind solle der Kindergeldanspruch erhalten bleiben, solange kein Leistungsberechtigter vorhanden sei, der die kindbedingten Belastungen tragen könnte.

Auf die Revision der Familienkasse hat das Bundessozialgericht das Berufungsurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen: Der Sohn hat keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst, weil er im maßgeblichen Zeitraum von September 2018 bis Juni 2019 den Aufenthalt seiner Mutter kannte.

Ein Kind kennt den Aufenthalt seiner Eltern, wenn es weiß, an welchem für ihn bestimmbaren Ort sich seine Eltern oder zumindest ein Elternteil aufhalten. Auf die Kenntnis einer postalischen Adresse oder eines „verstetigten“ Aufenthalts kommt es dagegen nicht an, weil sich seit Einführung des Kindergelds für „alleinstehende Kinder“ im Jahr 1986 die Kommunikationsmöglichkeiten und -gewohnheiten durch Internet und Mobilfunk grundlegend verändert haben. Für die erforderliche Aufenthaltskenntnis genügt es zudem, wenn aus Sicht des Kindes die zumutbare Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums Kontakt mit seinen Eltern aufzunehmen. Die Kenntnis fehlt erst dann, wenn Dauer und Ausmaß der Unkenntnis über den Verbleib der Eltern den endgültigen Verlust der Eltern-Kind-Beziehung wie bei einer Vollwaise befürchten lassen.

Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 Bundeskindergeldgesetz hat ein Kind bereits dann, wenn es weiß, an welchem für das Kind bestimmbaren Ort sich seine Eltern zumindest vorübergehend befinden. Nicht zu kennen braucht das Kind dagegen den Wohnsitz, den gewöhnlichen oder einen „verstetigten“ Aufenthalt, die ladungsfähige Anschrift oder eine sonstige, die postalische Erreichbarkeit ermöglichende Adresse seiner Eltern. Denn anders als bei der Einführung des Kindergelds für „alleinstehende Kinder“ im Jahr 1986 ermöglichen heute neue und erheblich erleichterte Kommunikationsmöglichkeiten wie insbesondere Mobiltelefonie, E-Mail und Messengerdienste, dass in Deutschland allein lebende Kinder die Beziehung zu ihren Eltern im Ausland aufrechterhalten und sich über deren aktuellen Aufenthaltsort informieren können. Dabei kann gegebenenfalls auch die Unterstützung dritter Personen, zum Beispiel von Familienangehörigen oder Freunden, in Anspruch genommen werden.

Selbst wenn ein Kind zeitweise nicht weiß, an welchem Ort sich seine Eltern zumindest vorübergehend befinden, fehlt ihm noch nicht die Kenntnis ihres Aufenthalts. Dies ist vielmehr erst dann der Fall, wenn aus Sicht des Kindes über die bloße Unkenntnis hinaus keine zumutbare Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums in Kontakt mit den Eltern zu treten und dabei den Aufenthaltsort zu erfahren. Ein rechtsmissbräuchliches Sich-Verschließen vor der Kenntnis ist der positiven Kenntnis des Aufenthalts gleichzustellen. Ein solcher Missbrauch kann aber erst dann angenommen werden, wenn das Kind es versäumt, eine sich ihm ohne Weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, deren Erlangung weder besondere Kosten noch Mühen verursacht.

Schließlich begründet eine Unkenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern und die Unmöglichkeit der Kontaktaufnahme mit zumutbaren Mitteln nur dann eine fehlende Aufenthaltskenntnis im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 Bundeskindergeldgesetz, wenn Dauer und Ausmaß der Unkenntnis über den Verbleib der Eltern nach den Umständen des Einzelfalls objektiv den endgültigen Verlust der Eltern-Kind-Beziehung befürchten lassen. Denn der Gesetzgeber hat den Anspruch auf Kindergeld für sich selbst zur Vermeidung sozialer Härten geschaffen und deshalb nur für einen sehr begrenzten Personenkreis vorgesehen. Zielgruppe waren Kinder, bei denen nach dem Tod oder der Verschollenheit ihrer Eltern niemand die Elternstelle im Sinne des Kindergeldrechts eingenommen hat, die also einen (vermeintlich) unwiederbringlichen „persönlichen Verlust“ erlitten hatten.

Steht die Kenntnis des Kindergeld für sich selbst beanspruchenden Kindes vom Aufenthalt seiner Eltern infrage, hat die Familienkasse diese Unkenntnis in Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht festzustellen. Dem Kind obliegt es nach allgemeinen sozialrechtlichen Grundsätzen, an den Ermittlungen der Familienkasse zur fehlenden Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern mitzuwirken, sofern die Mitwirkung angemessen und zumutbar ist. Nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten verbleibende Zweifel an der fehlenden Kenntnis des Kindes vom Aufenthalt seiner Eltern gehen nach den allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung zu dessen Lasten.

Nach diesen Vorgaben hat der Sohn keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst, weil er den Aufenthalt seiner Mutter während des streitigen Zeitraums kannte. Bereits bei der Antragstellung hatte er angegeben, zwei- bis dreimal monatlich mit seiner Mutter zu telefonieren. Dadurch hatte er zumindest die zumutbare Möglichkeit, sich nach ihrem aktuellen Aufenthaltsort zu erkundigen. Einen Abriss der Kommunikationsmöglichkeiten, der nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere angesichts der Gefahren und ungeordneten Verhältnisse in einem vom Bürgerkrieg geprägten Land wie Syrien, einen dauerhaften Verlust der Beziehung zu seiner Mutter befürchten ließ, hat der Sohn nicht behauptet. Er ergibt sich auch nicht aus den Feststellungen des Landessozialgerichts.

Bundessozialgericht, Urteil vom 14. Dezember 2023 – B gericht – 1/22 R

  1. SG Berlin, Urteil vom 22.01.2020 – S 2 KG 6/19[]
  2. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.09.2022 – L 4 KG 1/20[]