Krankenversicherungspflicht im ALG II-Bezug – bei vorheriger privater Krankenversicherung
Bezieher von Arbeitslosengeld II sind jedenfalls dann nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig, weil sie „unmittelbar“ vor dem Leistungsbezug privat krankenversichert waren (oder einen gleichgestellten Sachverhalt erfüllten), wenn dies zuletzt spätestens einen Monat vor dem Leistungsbeginn der Fall war.
Nach § 5 Abs 1 Nr 2a SGB V1 sind in der GKV versicherungspflichtig Personen in der Zeit, für die sie Alg II nach dem SGB II beziehen, soweit sie nicht familienversichert sind, es sei denn, dass diese Leistung nur darlehensweise gewährt wird oder nur Leistungen nach § 24 Abs 3 S 1 SGB II bezogen werden; dies gilt auch, wenn die Entscheidung, die zum Bezug der Leistung geführt hat, rückwirkend aufgehoben oder die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist.
Der Ausschlusstatbestand des § 5 Abs 5a SGB V bestimmt in Satz 1, dass nach § 5 Abs 1 Nr 2a SGB V nicht versicherungspflichtig ist, wer unmittelbar vor dem Bezug von Alg II privat krankenversichert war oder weder gesetzlich noch privat krankenversichert war und zu den in Abs 5 oder den in § 6 Abs 1 oder 2 genannten Personen gehört oder bei Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätte; dies gilt nach Satz 2 der Regelung nicht für Personen, die am 31.12.2008 nach § 5 Abs 1 Nr 2a versicherungspflichtig waren, für die Dauer ihrer Hilfebedürftigkeit.
Im vorliegend vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall war der ALG II-Bezieher war nicht iS von § 5 Abs 5a S 1 SGB V „unmittelbar“ vor dem 29.09.2009 beginnenden Alg II-Bezug privat krankenversichert. Da sein letzter Versicherungsschutz gegen Krankheit in der PKV zum 20.01.2008 endete (durch Kündigung des Versicherungsvertrags durch das Versicherungsunternehmen wegen aufgelaufener Beitragsrückstände), waren bei Beginn des Alg II-Bezugs insoweit bereits mehr als 1½ Jahre verstrichen. Bei einer derartig langen Zeitdauer kann von einer „unmittelbar“ vor dem Leistungsbezug bestehenden Versicherung in der PKV nicht mehr die Rede sein, ohne die Grenze des Wortlauts bzw des Wortsinns zu überdehnen.
Nichts anderes gilt im Ergebnis hinsichtlich des Unmittelbarkeitserfordernisses, wenn man in Rechnung stellt, dass der Kläger vom 21.01.2008 an2 weder gesetzlich noch privat krankenversichert war und längstens bis zur Gewerbeabmeldung zum 30.06.2009 zu den – was hier allein in Betracht kommt – in § 5 Abs 5 SGB V genannten Personen gehörte (weil er bis zu diesem Zeitpunkt hauptberuflich selbstständig tätig war). Zum einen kann es keinem Zweifel unterliegen, dass sich die Alternative, dass der Betroffene weder gesetzlich noch privat krankenversichert war und zu den in § 5 Abs 5 oder den in § 6 Abs 1 oder 2 genannten Personen gehört, nach der Systematik des § 5 Abs 5a S 1 SGB V auch darauf bezieht, dass diese Voraussetzungen „unmittelbar“ vor dem Bezug von Alg II gegeben sein mussten. Darüber hinaus ist aber auch die immerhin fast genau drei Monate dauernde Zeit vom 01.07.2009 bis 28.09.2009 zu lang, als dass angenommen werden könnte, „unmittelbar“ vor dem Alg II-Bezug habe noch eine rechtlich relevante Selbstständigkeit des Klägers iS des Rechts der GKV bestanden bzw der Kläger habe auch nach der Gewerbeabmeldung noch zum Personenkreis der Selbstständigen gehört.
Das Merkmal „unmittelbar“ in § 5 Abs 5a SGB V kann nicht im Anschluss an die Auffassung der Beklagten erweiternd und ohne zeitliche Betrachtung ausgelegt werden. Dem stehen die Auslegung nach dem Wortlaut und nach dem systematischen Zusammenhang entgegen, ohne dass der in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommende Sinn und Zweck geeignet ist, die Auffassung der Beklagten zu stützen3.
Mit der Verwendung des Tatbestandsmerkmals „unmittelbar“ im Zusammenhang mit der Verknüpfung zweier Sachverhalte bringt der Gesetzgeber regelmäßig das Erfordernis eines besonderen Näheverhältnisses der Sachverhalte zum Ausdruck, das nicht mehr gegeben ist, wenn eine nur mittelbare bzw gelockerte Verbindung zwischen den Tatbestandselementen besteht, selbst wenn sie einmal bestanden hat – mag dies auch „zuletzt“ der Fall gewesen sein. In diesem Sinne wird das Merkmal „unmittelbar“ nicht nur bei § 5 Abs 5a SGB V verwandt, sondern auch in anderen Bereichen des SGB, insbesondere auch im Versicherungsrecht der Sozialversicherung. Entsprechende Regelungen finden sich etwa in § 5 Abs 3 SGB V und § 3 S 1 Nr 4 SGB VI (Versicherungspflicht „unmittelbar“ vor dem Bezug von Vorruhestandsgeld), in § 9 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V (Versicherungsberechtigung bei „unmittelbar“ vor dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht bestehender qualifizierter Versicherung) und in § 26 Abs 2, Abs 2a und Abs 2b sowie insbesondere in § 28a Abs 2 S 1 Nr 2 und Nr 3 SGB III (Versicherungspflicht bei Weiterversicherungsberechtigung „unmittelbar“ vor Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bzw dem Bezug einer Entgeltersatzleistung; vgl ferner zur Verwendung des Merkmals „unmittelbar“ im Leistungsrecht zB § 11 Abs 2a Nr 2, § 20 Nr 3, § 21 Abs 4, § 32 Abs 1 S 2, § 56 Abs 3 und Abs 4 Nr 1, § 102 Abs 2 S 6 SGB VI).
Regelmäßig wird mit diesem Merkmal eine Eingrenzung von Risiken und von an sich gewollten Rechtsfolgen vorgenommen. Dann aber darf eine Auslegung nicht dazu führen, dass dem Merkmal „unmittelbar“ lediglich der Charakter eines bloßen Füllworts beigemessen und dadurch seine Eingrenzungsfunktion faktisch aufgehoben wird. Entsprechend hat das Bundessozialgericht auch in seiner Rechtsprechung zu Bereichen mit ähnlicher Regelungstechnik des Gesetzgebers eine einengende Sichtweise für zutreffend erachtet4) und für die Ausfüllung des Merkmals „unmittelbar“ zwar bisweilen keine „Nahtlosigkeit“ gefordert, sich aber jedenfalls an einer Ein-Monats-Frist orientiert5. Die vor diesem Hintergrund allenfalls in Betracht kommende Zeitgrenze von einem Monat ist im Falle des Klägers – in dem es um einen Zeitraum von ca drei Monaten geht – deutlich überschritten.
Der gegenteiligen Auslegung kann demgegenüber nicht gefolgt werden, weil sie letztlich darauf hinausliefe, dass es lediglich darauf ankäme, ob „zuletzt“ vor dem Alg II-Leistungsbezug Versicherungsschutz in der PKV bestand6. Da der Gesetzgeber in derselben Norm des § 5 SGB V aber an anderer Stelle – nämlich in § 5 Abs 1 Nr 13 Buchst a SGB V – ausdrücklich das Merkmal „zuletzt“ verwendet, in Abs 1 Nr 2a iVm Abs 5a der Regelung dagegen nicht, scheidet die Auslegung der Beklagten schon unter systematischem Blickwinkel aus. Anhaltspunkte für ein bloßes Versehen des Gesetzgebers bestehen nicht.
Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich für eine „erweiternde“ Auslegung nichts herleiten. So heißt es im Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum späteren GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)7 zu § 5 Abs 5a SGB V nur, dass es sich dabei um eine Folgeänderung zur Neuordnung des Verhältnisses von GKV und PKV handele; da die privaten Krankenversicherungen künftig einen bezahlbaren Basistarif im Umfang des Leistungsangebots der GKV für Personen anbieten müssten, die privat krankenversichert seien oder sein könnten, erscheine es nicht länger erforderlich, Alg II-Bezieher auch dann in die Versicherungspflicht in der GKV einzubeziehen, wenn sie unmittelbar vor dem Leistungsbezug privat krankenversichert gewesen seien; Gleiches gelte für die Personen, die unmittelbar vor dem Leistungsbezug weder gesetzlich noch privat krankenversichert gewesen seien und als hauptberuflich selbstständig Erwerbstätige oder als versicherungsfreie Personen zu dem Personenkreis gehörten, der grundsätzlich der PKV zuzuordnen seien; die Regelung diene damit auch einer gleichmäßigeren Lastenverteilung zwischen GKV und PKV8.
Dass in dieser Begründung auf eine gleichmäßige Lastenverteilung zwischen GKV und PKV abgehoben wird, ist zu unbestimmt, um mit Blick darauf dem Merkmal „unmittelbar“ einen konkreten; vom naheliegenden Wortsinn abweichenden Bedeutungsinhalt beimessen zu können. Aus der Wendung, dass die betroffenen Personen „zu dem Personenkreis gehören (müssen), der grundsätzlich der PKV zuzuordnen ist“ lässt sich ebenso nichts herleiten, weil es in der gesetzlichen Regelung ja gerade darum geht, die Voraussetzungen dafür aufzustellen, unter denen Betroffene entweder der GKV oder der PKV zuzuordnen sind; dazu bedarf es erst einer Auslegung des streitigen Tatbestandsmerkmals. Ergibt eine Auslegung aber – wie vorstehend dargelegt, dass in Fällen der vorliegenden Art eine „Unmittelbarkeit“ nicht gegeben ist, steht damit auch fest, dass der Gesetzgeber den Personenkreis, zu dem der Kläger gehört, der GKV überantwortet hat.
Auch sonstige Gesichtspunkte rechtfertigen kein vom Urteil des LSG abweichendes Ergebnis. So kann das von der Beklagten gewünschte Ergebnis insbesondere nicht daraus hergeleitet werden, dass es ein Betroffener dadurch, dass er seine Pflicht zum Abschluss eines privaten Versicherungsvertrags gemäß § 193 Abs 3 S 1 VVG nicht erfüllt, letztlich selbst in der Hand haben könnte, Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs 1 Nr 2a SGB V herbeizuführen. Die bloße Möglichkeit eines „Taktierens“ des Betroffenen hat den Gesetzgeber für den Bereich der GKV nicht dazu bewogen, eine andere Rechtsfolge anzuordnen als in § 5 Abs 1 Nr 2a und Abs 5a SGB V geregelt. Dass (auch) das VVG Rechtsfolgen bei Verletzung der sich aus § 193 Abs 3 VVG ergebenden Pflichten zum zeitnahen Abschluss eines Versicherungsvertrages in der PKV vorsieht (= Prämienzuschlag nach § 193 Abs 4 VVG), schließt nicht die alleinige Anwendung des § 5 Abs 5a SGB V auf Personen aus, die versicherungspflichtig in der GKV sind (vgl § 193 Abs 3 S 2 Nr 1 VVG); Letzteres ist nach den obenstehenden Ausführungen beim Kläger zu bejahen. Wenn demgegenüber – auch in der Rechtsprechung9 – darauf abgestellt wird, dass ein Verstoß gegen die Verpflichtung nach § 193 Abs 3 VVG die sich hier ergebende Rechtsfolge des § 5 Abs 5a SGB V nicht auslösen könne, weil sonst Betroffenen aus einer Pflichtverletzung zu Lasten der Versichertengemeinschaft in der GKV Vorteile in Form kostengünstigen solidarischen Versicherungsschutzes zuteilwürde, nimmt dies nicht hinreichend in den Blick, dass richterlicher Rechtsfortbildung insoweit Grenzen gesetzt sind. Diese Grenzen sind auch dann zu beachten, wenn ein bestimmtes Ergebnis unbillig oder sozialpolitisch unbefriedigend erscheint. Insoweit Änderungen vorzunehmen ist dagegen dem Gesetzgeber vorbehalten.
Bundessozialgericht Urteil vom 3. Juli 2013 – B 12 KR 11/11 R
- mWv 1.01.2005 eingeführt durch Art 5 Nr 1 Buchst b Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954[↩]
- bis jedenfalls 29.09.2009[↩]
- für eine enge Auslegung auch zB: Felix in juris-PK SGB V, 2. Aufl 2012, § 5 RdNr 40; Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, K § 5 RdNr 11a, Stand Einzelkommentierung IV/09; Wiegand in Eichenhofer/Wenner, SGB V, 2013, § 5 RdNr 34 (beide iS von „an dem Tag, der dem Tag des Alg II-Bezugs vorausgeht“); LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 21.05.2010 – L 9 KR 33/10 B ER f mit zustimmender Anm Bieback jurisPR-SozR 17/2010 Anm 5; aA LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 23.08.2010 – L 16 KR 329/10 B ER sowie Beschluss vom 30.04.2012 – L 16 KR 134/12 B ER[↩]
- vgl zB BSG SozR 4-2500 § 5 Nr 9 RdNr 14 (zu § 5 Abs 3 SGB V[↩]
- so BSG SozR 4-4300 § 28a Nr 4 RdNr 22 (im Anschluss an die Gesetzesmaterialien); für diese Zeitdauer ähnlich in Bezug auf den für einen Existenzgründerzuschuss erforderlichen „engen zeitlichen Zusammenhang“ zwischen der Existenzgründung und einem vorausgehenden Arbeitslosengeldanspruch: BSG (11a-Senat) SozR 4-4300 § 57 Nr 2 RdNr 11, 15 sowie Nr 6 RdNr 24; vgl ferner BSG (7/7a-Senat) BSGE 99, 42 = SozR 4-4300 § 123 Nr 4, RdNr 16; BSG Urteil vom 27.06.2012 – B 12 KR 6/10 R (richterrechtlich geforderte Unmittelbarkeit bei der Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V); zum Unmittelbarkeitserfordernis im Zusammenhang mit der Krankenkassenwahl nach § 175 Abs 4 S 4 SGB V: BSG Urteil vom 09.11.2011 – B 12 KR 3/10 R mwN; demgegenüber zur notwendigen Unterscheidung von „zuletzt“ und „unmittelbar“ bei der Auslegung des § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V: BSGE 107, 177 = SozR 4-2500 § 5 Nr 13, LS 1 und RdNr 15 ff und BSG SozR 4-2500 § 5 Nr 15, LS 1 und RdNr 17[↩]
- so schon SG Kiel Beschluss vom 30.08.2010 – S 37 AS 437/10 ER [↩]
- vom 26.03.2007, BGBl I 378[↩]
- so Gesetzentwurf, aaO, BT-Drs. 16/3100 S 94 f zu Nr 2 Buchst b[↩]
- LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 23.08.2010 – L 16 KR 329/10 B ER [↩]