Kindergeld für ein langfristig erkranktes, volljähriges Kind
Eine kindergeldrechtliche Berücksichtigung wegen Berufsausbildung scheidet aus, wenn Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses wegen einer nicht vorübergehenden Erkrankung unterbleiben. In Betracht kommt dann eine Berücksichtigung wegen Behinderung (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG). Eine Krankheit ist nicht vorübergehend, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine länger als sechs Monate dauernde Beeinträchtigung zu erwarten ist (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).
Eine Kindergeldgewährung wegen Berufsausbildung ist mithin trotz eines bestehenden Ausbildungsverhältnisses nicht möglich, wenn das Kind langfristig so stark erkrankt ist, dass keine Ausbildungsmaßnahmen erfolgen können.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall hatte ein junger Erwachsener während seiner Ausbildung einen schweren Unfall mit Schädelbasisbruch und Schädel-Hirn-Trauma erlitten und nach dem Krankenhausaufenthalt verschiedene Reha-Maßnahmen durchlaufen, von denen die letzte 17 Monate nach dem Unfall begann.
Das erstinstanzlich hiermit befasste Finanzgericht Münster (FG Münster, Urteil vom 01. Juli 2020 – 11 K 1832/19 Kg) sprach Kindergeld für die ersten acht Monate nach dem Unfall zu, weil das Ausbildungsverhältnis fortbestanden habe und der Wille, die Ausbildung baldmöglichst fortzusetzen, in mehrfacher Hinsicht belegt sei. Auf die Revision der Kindergeldkasse ist der Bundesfinanzhof dem entgegengetreten und hat die Sache zu weiterer Sachaufklärung an das Finanzgericht zurückverwiesen:
In einer Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG befindet sich ein Kind dann, wenn es sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet. Eine Unterbrechung der Ausbildung, z.B. wegen einer Erkrankung, ist unschädlich, wenn diese vorübergehend ist. Wird die Erkrankung aber mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern, kann das Kind nicht mehr wegen seiner Ausbildung berücksichtigt werden. Das Finanzgericht muss nun klären, ob die sechs Monate übersteigende Erkrankungsdauer bereits in den ersten Monaten nach dem Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet wurde. Falls zunächst eine schnellere Genesung als möglich erschien, könnte der Kindergeldanspruch, so der Bundesfinanzhof weiter, für diesen Zeitraum noch wegen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses begründet sein. Für die Monate, in denen eine Berücksichtigung wegen Ausbildung aufgrund des dann mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarteten und eingetretenen langwierigen Heilungsprozesses nicht in Betracht kommt, ist zu prüfen, ob das Kind behinderungsbedingt außerstande war, sich selbst zu unterhalten und deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 15. Dezember 2021 – III R 43/20