Rückforderung von Kindergeld – bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
Für die Frage, ob Kindergeld behalten werden darf oder zurückzuzahlen ist, kommt es auf das Vorliegen von Kindergeldfestsetzungs- oder Aufhebungsbescheiden an und nicht auf den abstrakten materiell-rechtlichen Kindergeldanspruch. Bei der Rückforderung von zu Unrecht gezahltem Kindergeld ergibt sich bei länderübergreifenden Sachverhalten keine Anspruchskonkurrenz des Anspruchs nach den europarechtlichen Regelungen der VO Nr. 883/2004 und VO Nr. 987/2009 mit dem Rückforderungsanspruch nach den nationalen Vorschriften.
Ein etwaiger Erstattungsanspruch des deutschen Leistungsträgers gegen einen ausländischen Leistungsträger nach den europarechtlichen Bestimmungen ist kein auf steuerrechtlichen Gründen beruhender öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO. Ein Ausgleichsanspruch zwischen den Mitgliedstaaten nach der VO Nr. 987/2009 berührt daher nicht den Rückforderungsanspruch der Familienkasse gegen den Kindergeldberechtigten.
Ist eine Steuervergütung wie das Kindergeld (§ 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes) ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nach § 37 Abs. 2 AO gegenüber dem Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrages. Diese Rechtsfolge tritt auch ein, wenn der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO).
Im Streitfall ist das Kindergeld für den Streitzeitraum in Höhe von 1.529, 92 € ohne Rechtsgrund gezahlt worden. Das Finanzgericht hat die Klage, soweit sie sich gegen die am 03.07.2018 erfolgte teilweise Aufhebung des Kindergeldes für den Zeitraum Januar bis Juli 2017 richtete, abgewiesen. Hiergegen hat die Mutter keine Revision eingelegt. Durch die bestandskräftige (teilweise) Aufhebung des Kindergeldfestsetzungsbescheids in genannter Höhe ist der rechtliche Grund für die Zahlung weggefallen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO). Ob die Anrechnung der schwedischen Familienleistungen zu Recht erfolgt ist, obwohl der schwedische Leistungsträger -möglicherweise zu Unrecht- einen Anspruch auf schwedische Familienleistungen verneint hat, kann aufgrund der Bestandskraft des Bescheids vom 03.07.2018, soweit er die teilweise Änderung der Festsetzung betraf, im vorliegenden Verfahren nicht mehr geprüft werden. Wird ein Bescheid über die Bewilligung von Kindergeld aufgehoben, steht mit Ergehen dieses Aufhebungsbescheids, solange dessen Vollzugsfolgen fortbestehen, fest, dass das auf der Grundlage des Bewilligungsbescheids gezahlte Kindergeld zu Unrecht geleistet worden ist1. Es ist auch geklärt, dass es für die Frage, ob Kindergeld behalten werden darf oder zurückzuzahlen ist, auf das Vorliegen von Kindergeldfestsetzungs- oder Aufhebungsbescheiden -mithin auf die formelle Bescheidlage- ankommt und nicht auf den abstrakten materiell-rechtlichen Kindergeldanspruch2.
Die Mutter ist Leistungsempfängerin des zu Unrecht gezahlten Kindergeldes. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist Leistungsempfänger i.S. des § 37 Abs. 2 AO derjenige, demgegenüber die Finanzbehörde oder Familienkasse ihre -vermeintlich oder tatsächlich bestehende- abgabenrechtliche Verpflichtung erfüllen will3.
§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO räumt der Behörde auch keinen Ermessensspielraum ein. Da es sich bei dem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch um einen Anspruch aus dem Steuerrechtsverhältnis handelt, richtet sich seine Entstehung nach § 38 AO4. Hiernach entsteht der Anspruch, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Die Familienkasse war daher nicht gehalten, bei der Entscheidung über den Erlass des angegriffenen Bescheids zu prüfen, ob die Rückforderung ermessenskonform war.
Der schwedische Leistungsträger war im Streitfall wegen dieses gegen die Mutter gerichteten Rückforderungsanspruch auch nicht Gesamtschuldner (§ 44 AO) mit der Folge, dass bei der Inanspruchnahme eines Gesamtschuldners es grundsätzlich in das Ermessen der Behörde nach § 44 Abs. 1 Satz 1 AO gestellt ist, an wen sie sich wendet5. Gemäß § 44 Abs. 1 AO sind Personen, die nebeneinander dieselbe Leistung aus dem Steuerschuldverhältnis schulden oder für sie haften, Gesamtschuldner. Für den hier vorliegenden öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch ist der schwedische Leistungsträger nicht Rückforderungsschuldner.
Hieran ändert auch das Unionsrecht – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (Grundverordnung)6 und VO Nr. 987/2009 – nichts. Ein etwaiger Erstattungsanspruch (vgl. Art. 6 Abs. 4, Abs. 5, Art. 60 Abs. 5 der VO Nr. 987/2009) des deutschen Leistungsträgers gegen den schwedischen Leistungsträger ist kein auf steuerrechtlichen Gründen beruhender Erstattungsanspruch i.S. des § 37 Abs. 2 AO, sondern ein zwischen den Mitgliedstaaten aufgrund einer internationalen Vereinbarung (möglicherweise) bestehender verfahrensrechtlicher Ausgleichsanspruch. Auch wenn sich dieser gegen den vorrangig zuständigen Mitgliedstaat auf Erstattung einer des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats gezahlten Familienleistung richtet, kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der in § 37 Abs. 2 AO geregelte Anspruch auf der Umkehrung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis i.S. des § 37 Abs. 1 AO beruht7. An diesem Rechtsverhältnis ist der schwedische Leistungsträger nicht beteiligt.
Entgegen der Ansicht des Niedersächsischen Finanzgerichts8 steht der Familienkasse für das rechtsgrundlos gezahlte Kindergeld in Höhe des vermeintlich bestehenden Anspruchs auf schwedische Familienleistungen daher auch kein weiterer (Haftungs-)Schuldner zur Verfügung, der eine ermessensgerechte Auswahlentscheidung unter den Schuldnern nach sich ziehen könnte.
Gemäß Art. 60 Abs. 5 der VO Nr. 987/2009 kann zwar der Träger, der eine vorläufige Leistungszahlung vorgenommen hat, die höher ist als der letztlich zu seinen Lasten gehende Betrag, den zu viel gezahlten Betrag nach dem Verfahren des Art. 73 der Durchführungsverordnung vom vorrangig zuständigen Träger zurückfordern. Dieses Verfahren soll auch vermeiden, dass bei einer nachträglichen Feststellung der rückwirkend geltenden vorrangigen Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, die Kindergeldfestsetzung -soweit ein Anspruch auf ausländische Familienleistungen besteht und vorrangig ist- aufgehoben wird, wenn feststeht, dass der Kindergeldberechtigte insgesamt keine höheren Leistungen als die ihm zustehenden inländischen und ausländischen erhalten hat. Wenn aber die Kindergeldfestsetzung bestandskräftig aufgehoben wurde, führt das in Art. 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 73 der VO Nr. 987/2009 geregelte Verfahren nicht dazu, dass der ausländische Leistungsträger zum weiteren Schuldner des Erstattungsanspruchs nach § 37 Abs. 2 AO wird oder für diesen haftet (vgl. § 191 AO). Die in Art. 6, Art. 60, Art. 73 der VO Nr. 987/2009 und Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufgenommenen Regelungen dienen einer engen und effektiven Zusammenarbeit zwischen den Trägern der verschiedenen Mitgliedstaaten und sind Ausfluss des Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union9. Sie regeln u.a. das Verfahren der Mitgliedstaaten bei Meinungsverschiedenheiten, insbesondere bei der Überprüfung der in Art. 68 der VO Nr. 883/2004 getroffenen Koordinierungsregelungen und ermöglichen den Mitgliedstaaten auch im Interesse der Leistungsberechtigten vorläufige Entscheidungen zu treffen. Sie berühren aber nicht unmittelbar die Rechtsbeziehungen zwischen dem Leistungsempfänger, der ohne rechtlichen Grund eine Leistung erhalten hat, und dem Vergütungsgläubiger. Die Regelungen aus der VO Nr. 883/2004 und aus der VO Nr. 987/2009 verleihen dem Kindergeldberechtigten weder materielle Leistungsansprüche noch begründen sie Einwendungen oder Einreden gegen die Durchsetzbarkeit öffentlich-rechtlicher Erstattungsansprüche. Der Kindergeldberechtigte kann daher der gesetzlich vorgesehenen Erstattungspflicht für rechtsgrundlos geleistetes Kindergeld nicht mit dem Einwand begegnen, der inländische Leistungsträger möge im Hinblick auf einen möglicherweise bestehenden Anspruch auf ausländische Familienleistungen die Rückzahlung von dem anderen Mitgliedstaat fordern. Es ist grundsätzlich allein Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten, die materiellen und formellen Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch bei rechtsgrundlos gezahlten Familienleistungen festzulegen (Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten). Damit wird die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte des Kindergeldberechtigten auch nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert –Effektivitätsgrundsatz–10.
Der Rückforderung steht auch nicht entgegen, dass die Mutter möglicherweise keine Kenntnis von einem Anspruch auf ausländische Familienleistungen hatte. § 37 Abs. 2 AO setzt kein Verschulden auf Seiten des Leistungsempfängers voraus. Der Rückzahlungsanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn den Leistungsempfänger an der Fehlleistung kein Verschulden trifft oder wenn er diese nicht einmal erkannt hat11. Der Rückforderungsanspruch ist Ausdruck eines übergeordneten und allgemein herrschenden Prinzips, dass derjenige, der vom Staat auf Kosten der Allgemeinheit etwas zu Unrecht erhalten hat, grundsätzlich verpflichtet ist, das Erhaltene zurückzuzahlen12.
g)) Einer Rückforderung steht auch nicht der Gesichtspunkt von Treu und Glauben oder der Verwirkungsgedanke entgegen13. Zur Schaffung des erforderlichen Vertrauenstatbestandes (Umstandsmomentes) müssen besondere Umstände hinzukommen, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen. Dem Verhalten der Familienkasse muss die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht14. Ein solches Verhalten ist vorliegend nicht erkennbar. Allein die in den europäischen Verordnungen enthaltenen Regelungen und Grundsätze über die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten reichen ohne ein besonderes Verhalten der Familienkasse nicht aus, zwischen der Mutter und der Familienkasse ein konkretes Rechtsverhältnis als Grundlage für die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben zu begründen.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 14. April 2021 – III R 36/20
- BFH, Urteil vom 24.08.2001 – VI R 83/99, BFHE 196, 278, BStBl II 2002, 47; BFH, Beschluss vom 22.01.2004 – VIII B 289/03, BFH/NV 2004, 759[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 15.07.2010 – III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237[↩]
- BFH, Urteile vom 23.10.2012 – VII R 63/11, BFH/NV 2013, 689; und vom 18.09.2012 – VII R 53/11, BFHE 239, 292, BStBl II 2013, 710, Rz 13, m.w.N.[↩]
- Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 37 AO Rz 27, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 18.03.1987 – II R 35/86, BFHE 149, 267, BStBl II 1987, 419; vom 08.08.1991 – V R 19/88, BFHE 165, 307, BStBl II 1991, 939; BFH, Beschluss vom 11.07.2001 – VII R 28/99, BFHE 195, 510, BStBl II 2002, 267[↩]
- ABl.EU 2004 Nr. L 166, S. 1[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 12.11.2013 – VII R 15/13, BFHE 243, 309, BStBl II 2014, 359[↩]
- Nds. FG, Urteil vom 26.05.2020 – 6 K 263/18[↩]
- ABl.EU 2012, Nr. C 326[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 09.05.2012 – I R 73/10, BFHE 238, 1, BStBl II 2013, 566, Rz 19, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 10.03.2016 – III R 29/15, BFH/NV 2016, 1278, Rz 24[↩]
- ständige Rechtsprechung, BFH, Urteil vom 09.07.2019 – X R 35/17, BFHE 264, 421, BStBl II 2019, 668, Rz 28; BFH, Beschluss vom 22.07.2014 – VII R 38/13, BFH/NV 2014, 1721, Rz 10, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 27.02.2007 – III B 1/06, BFH/NV 2007, 1120[↩]
- z.B. BFH, Beschluss vom 28.01.2010 – III B 37/09, BFH/NV 2010, 837, m.w.N.[↩]